Weises Erwägen

 Weises Erwägen


Weises Erwägen (yoniso-manasikara) bedeutet „den Dingen auf den Grund zu gehen“. Es bedeutet die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind, und nicht wie sie uns oberflächlich erscheinen. Durch weises Erwägen gelangte der Buddha und auch seine Arahants zum Erwachen!

Wirklichkeitsgemäße Erkenntnis führt zur Desillusionierung (nibbida).
Desillusioniert schwindet die Begierde (virāga).
Begierdelos ist man befreit (vimutti) vom Werden im Daseinskreislauf.

Wirklichkeitsgemäße Erkenntnis bedeutet unser Nicht-Wissen (avijja) zu überwinden.

Nachfolgend schildert der Buddha, wie er noch vor seinem vollständigen Erwachen durch Weises Erwägen zur Erkenntnis des „Bedingten Entstehens“ und Aufhörens gelangte.

Saṁyutta Nikaya 12.10
Gotamasutta

Bei Sāvatthī.

"Ihr Mönche, vor meinem Erwachen - als ich noch nicht erwacht war, aber die Absicht hatte, zu erwachen (ein bodhisatta) - dachte ich:

'Ach, diese Welt ist in Schwierigkeiten geraten. Man wird geboren, altert, stirbt, vergeht und wird wiedergeboren (upapajjati), aber sie versteht nicht, wie sie diesem Leiden (dukkha), dem Alter und dem Tod entkommen (nissaraṇa) kann. Oh, wann wird ein Ausweg aus diesem Leiden, aus Alter und Tod gefunden werden?

Dann kam mir der Gedanke:

'Was muss sein, dass es Alter und Tod gibt?
Was ist die Bedingung für Alter und Tod?'

Dann, durch „Weises Erwägen“ (yoniso manasikara), begriff ich mit Weisheit (pañña): 

Wenn Geburt existiert, gibt es Alter und Tod.
Geburt ist die Bedingung für Alter und Tod.'

Dann kam es mir in den Sinn:

'Wenn was existiert, gibt es Geburt? ... Werden ... Ergreifen ... Durst ... Fühlen ... Kontakt ... die sechs Sinnesfelder ... Name und Form ... Bewusstsein …

'Wenn was existiert, gibt es Gestaltungen?
Was ist eine Bedingung für Gestaltungen?'

Dann, durch Weises Erwägen, begriff ich mit Weisheit:

'Wenn Nicht-Wissen (avijja) existiert, gibt es Gestaltungen (Willensregungen).
Nicht-Wissen (um die vier edlen Wahrheiten) ist eine Bedingung für Gestaltungen.'

Und so ist Nicht-Wissen die Bedingung für Gestaltungen,
Gestaltungen sind eine Bedingung für (den Fortbestand des) Bewusstsein,
Bewusstsein ist die Bedingung für Geist und Körper (Daseinsgrundlagen), …

So entstehen diese leidvollen Daseinsgrundlagen.'

Entstehen (samudaya), Entstehen. Damit erstand mir, ihr Bhikkhus, in Bezug auf früher nie gehörte Dinge Einsicht (cakkhu), erstand mir Verständnis (ñāṇa), erstand mir Weisheit (paññā), erstand mir Wissen (vijjā), erstand mir Klarheit (āloko).“

Dann kam es mir in den Sinn:

'Wenn was nicht existiert, gibt es kein Altern und kein Sterben?
Wenn was aufhört zu existieren, gibt es kein Altern und keinen Sterben?'

Dann begriff ich durch Weises Erwägen mit Weisheit:

'Wenn die Geburt nicht existiert, gibt es kein Altern und kein Sterben?
Wenn Geburt aufhört, hören Alter und Tod auf.'

Dann kam mir in den Sinn:

'Wenn was NICHT existiert, gibt es KEINE Geburt? ... Werden ... Ergreifen ... Durst ... Gefühl ... Kontakt ... die sechs Sinnesfelder ... Name und Form ... Bewusstsein …

'Wenn was nicht existiert, gibt es keine Gestaltungen?
Wenn was aufhört, hören die Gestaltungen auf?'

Dann, durch Weises Erwägen, begriff ich mit Weisheit:

'Wenn Nicht-Wissen nicht existiert, gibt es keine Gestaltungen.
Wenn Nicht-Wissen aufhört, hören die Gestaltungen auf.'

Und so, wenn Nicht-Wissen aufhört, hören die Gestaltungen auf.
Wenn die Gestaltungen aufhören, hört das Bewusstsein auf.
Wenn das Bewusstsein aufhört (sich fortzusetzen), hört Geist und Körper auf. …

Auf diese Weise hören die leidvollen Daseinsgrundlagen auf.

Aufhören (nirodha), Aufhören. Damit erstand mir, ihr Bhikkhus, in Bezug auf früher nie gehörte Dinge Einsicht (cakkhu), erstand mir Verständnis (ñāṇa), erstand mir Weisheit (paññā), erstand mir Wissen (vijjā), erstand mir Klarheit (āloko).“

Und noch ein Beispiel Weisen Erwägens des Buddha, welches schließlich zum Erwachen führte.

Saṁyutta Nikāya 22
3. Bhāravagga
26. Assādasutta (Der Genuss)

In Savatthi.

"Bhikkhus, vor meinem Erwachen, als ich noch ein Bodhisatta war, noch nicht voll erwacht, kam es mir in den Sinn:

'Was ist die Genuss (assāda),
was ist das Elend (ādīnavo),
was ist das Entkommen (nissaraṇa) im Falle der Form?

Was ist die Befriedigung, was ist das Elend, was ist das Entkommen im Falle von Gefühl ... Wahrnehmung ... Gestaltungen ... Bewusstsein?'

"Dann, Bhikkhus, kam es mir in den Sinn:

'Das Vergnügen (somanassa) und die Freude (sukha), die in Abhängigkeit (paṭicca) von der Form entstehen: das ist die Befriedigung (assāda) im Fall der Form.

Dass die Form unbeständig (anicca), leidvoll (dukkha) und dem Wandel unterworfen (vipariṇāma-dhamma) ist: Das ist das Elend (ādīnavo) an der Form.

Die Überwindung der Lust und der Begierde (chanda-rāga-vinayo),
das Aufgeben der Lust und der Begierde (chanda-rāga-p-pahāna)
nach der Körperlichkeit: das ist das Entkommen aus der Körperlichkeit.

"Das Vergnügen und die Freude, die
in Abhängigkeit vom Empfindungen entstehen …
in Abhängigkeit von der Wahrnehmung entstehen …
in Abhängigkeit von den Gestaltungen entstehen…

in Abhängigkeit vom Bewusstsein entstehen, dass ist die Befriedigung am Bewusstsein. Dass das Bewusstsein unbeständig, leidvoll und dem Wandel unterworfen ist: das ist das Elend am Bewusstsein. Die Überwindung und Aufgabe der Lust und der Begierde nach Bewusstsein: das ist das Entkommen aus dem Bewusstsein.'

"Solange ich, Bhikkhus, die Befriedigung, das Elend und das Entkommen im Falle dieser fünf Gruppen die dem Ergreifen unterliegen (upādāna-khandha), nicht direkt erkannte, wie sie wirklich sind, habe ich nicht behauptet, in dieser Welt mit ihren Devas, Mara und Brahma, in dieser Generation mit ihren Asketen und Brahmanen, ihren Devas und Menschen zur unübertroffenen vollkommenen Erwachung erwacht zu sein.

Aber als ich all dies direkt erkannte, wie es wirklich ist, da behauptete ich, in dieser Welt mit ... ihren Devas und Menschen zur unvergleichlichen, höchsten Erwachung erwacht zu sein.

(Nirvana wird durch das Aufhören des Werdens im Daseinskreislauf erlangt)

"Es entstand in mir das Wissen und die Vision
(Ñāṇañca pana me dassanaṁ udapādi):

'Unerschütterlich ist meine Befreiung (akuppā me vimutti);
dies ist meine letzte Geburt (ayamantimā jāti);
jetzt gibt es kein erneutes Werden mehr (natthi dāni punabbhavo).'"

Weises Erwägen bedeutet zu erkennen, was Dukkha wirklich ist und wie man zum Ende von Dukkha gelangen kann. Dukkha beschreibt der Buddha sowohl in den „Vier edlen Wahrheiten“ wie auch in seiner Lehre vom „Bedingten Entstehen“ als die Konsequenz aus der Tatsache, dass wir mittels Daseinsgrundlagen (Körper und Geist) in Erscheinung treten. Die Beschreibung von Dukkha beginnt immer mit der Geburt! Leider ist davon heute zumeist nur noch die Behauptung übrig geblieben, dass es Leid in der Welt gibt, und dass dies durch Gier, Hass und Verblendung verursacht wird.

Das ist es nicht, was uns der Buddha vermittelt hat. Er hat stattdessen klar auf die Ursache des Leidens gezeigt: „Die fünf Gruppen des Ergreifens“, also Körper, Empfindungen, Wahrnehmungen, Gestaltungen und Bewusstsein, die ALLES sind, was uns als Lebewesen ausmacht. Das ist das Ergebnis weisen Erwägens, dass ist die Erleuchtungserfahrung des Buddha. Daraus ergab sich dann auch gleich der Weg zur Befreiung:

Dukkha-Khandha-Nirodha bedeutet das Aufhören dieser leidvollen Daseinsgrundlagen. 

Das Ende von Dukkha bezeichnet der Buddha als Erlöschen (nibbāna). Kein Entstehen, Vergehen und Anderswerden zeigt sich mehr. Es ist das Ungewordene, also frei von allem was werden könnte. Es ist das Ende des seit anfangsloser Zeit bestehenden Daseinskreislaufs (samsara) gemäß der karmischen Dispositionen.

Es ist der im Nicht-Wissen (avijja) wurzelnde Durst (tanha) nach Werden (bhava) und sinnlichem Erleben (kama), der uns gemäß den karmischen Dispositionen immer wieder in Erscheinung treten lässt und es ist dessen Überwindung, die uns davon befreit (zweite und dritte edle Wahrheit). 

Weises Erwägen führt uns schließlich zu der Erkenntnis, dass nichts in diesen bedingten Daseinsbereichen der Mühe wert ist, dafür mittels Daseinsgrundlagen (physisch, feinstofflich/formhaften oder ohne spezifische Form) in Erscheinung zu treten. So werden wir ernüchtert, wenden uns ab und können schließlich loslassen.

In der Lehrrede über die „Beendigung des Verlangen“ (Cûlatanhā-sankhaya-Sutta, Majjhima-Nikāya 37) sagt der Buddha:

„Da hat ein Bhikkhu gehört, dass alle Dinge nicht der Mühe wert sind (sabbe dhammā nālaṃ abhinivesāyā).

Er erkennt jegliches Ding. Indem er jegliches Ding erkennt (sabbam dhammam abhiññāya), durchschaut er jegliches Ding vollständig (sabbam dhammam parijānāti). Indem er jegliches Ding vollständig durchschaut, welches Gefühl (vedanā) auch immer er empfinden mag, sei es freudvoll (sukha) oder leidvoll (dukkha) oder weder leidvoll noch freudvoll;

er verweilt bei den Empfindungen die Vergänglichkeit betrachtend (aniccā-nupassî),
verweilt das Schwinden der Begierde (nichts mehr daran finden) betrachtend (virāgā-nupassî)
verweilt das Aufhören (des Werdens) betrachtend (nirodhā-nupassî),
verweilt das Loslassen betrachtend (patinissaggā-nupassî).

(Auf diese Weise) ... ergreift (upadana) er nichts in der Welt.
Wenn er nichts ergreift, ist er nicht mehr beunruhigt .
Wenn er nicht mehr beunruhigt ist, erlangt er Nibbāna.“

Er versteht: ,Geburt ist zu Ende gebracht,
das heilige Leben ist gelebt (edle achtfache Pfad),
es ist getan, was getan werden mußte (sila, samadhi u. panna),
darüber hinaus gibt es nichts mehr (kein erneutes Werden mehr).‘

Kurz gefaßt, Herrscher der Götter (Sakka), auf diese Weise ist ein Bhikkhu durch die Vernichtung des Verlangens (tanha/Durst) befreit, ist er einer, der den letztendlichen Zweck, die letztendliche Sicherheit vor dem Gefesseltsein, das letztendliche heilige Leben, das letztendliche Ziel erreicht hat, einer der die erste Stelle unter den Göttern und Menschen einnimmt.“

Weises Erwägen führt zur Wissens-Befreiung (vijja-vimutti), dem Ende des Nicht-Wissens (avijja):

Die Fragen des Königs Milinda
Teil 4, Kapitel 8
6.3.11. Kann das Nibbāna erzeugt werden?
„ebenso auch, o König, verwirklicht der im Wandel Vollkommene durch Weises Erwägen (yoniso manasikara) das von der dreifachen Feuersglut (Gier, Hass u. Verblendung) freie höchste Glück des Nibbāna.“
„Auf welche Weise aber, o Ehrwürdiger, verwirklicht der im Wandel Vollkommene das Nibbāna?“

„Gleichwie, o König, ein Mann an einer den ganzen Tag über erhitzten, glühendheißen, feurigen Eisenkugel weder unten, noch oben, noch in der Mitte irgend eine Stelle bemerkt, wo er sie anfassen könnte: ebenso auch, o König, erwägt er nach richtiger Methode (sammā-paṭipanna) mit rechter Achtsamkeit der Gebilde Werdegang (saṅkhārānaṁ pavattaṁ sammasati);

und indem er der Gebilde Werdegang erwägt,

gewahrt er dabei das Geborenwerden,
gewahrt er das Altern,
gewahrt er die Krankheit,
gewahrt er das Sterben,

und nicht bemerkt er darin irgendwie Glück oder Labsal; und weder am Anfang, noch in der Mitte, noch am Ende bemerkt er irgend etwas, woran er sich hängen sollte.

Dabei bemächtigt sich der Widerwille seines Herzens, und eine Glut befällt seinen Körper. Und weil er da keinen Schutz, keine Zuflucht, keine Sicherheit findet, wird er vom Werden desillusioniert. Gleichwie ein Mann, der in ein großes, flammendes Feuermeer hineingeraten und dort ohne Zuflucht, Sicherheit und Schutz ist, Grauen vor dem Feuer empfindet: so auch bemächtigt sich, da er nirgends etwas findet, was er ergreifen sollte, der Widerwille seines Herzens, und eine Glut befällt seinen Körper. Und weil er da keinen Schutz, keine Zuflucht, keine Sicherheit findet, 

wird er vom Werden desillusioniert.

Und während er im Fortbestand (pavatte) Schrecken wittert, steigt in seinem Gemüt (Herz/citta) folgender Gedanke auf: ‚Ein verzehrendes Feuer, wahrlich, ist dieser Fortbestand, lodernd, aufflammend, voll des Elends und der Verzweiflung.

Daß doch einer den Nicht-Fortbestand (appavattaṁ) erreichen könnte,

(Nirvana, das Ungewordene)

dieses Friedvolle (etaṁ santa),
dieses Erhabene (etaṁ paṇīta),
nämlich (yadida)
den Stillstand aller Gestaltungen (sabbasaṅkhārasamatho),
die Loslösung von allen Daseinsgrundlagen (sabbūpadhipaṭinissaggo),
des Durstes Vernichtung (taṇhakkhayo),
die Begierdelosigkeit (virāga: nicht mehr daran finden),
das Aufhören (nirodha: des Werdens)
das Erlöschen (nibbāna)!‘

So drängt sein Herz/Gemüt (citta) nach dem Nicht-Fortbestand (appavatti), erfreut sich daran, erheitert sich und fühlt sich zufrieden in dem Gedanken 

‚Endlich, wahrlich, habe ich den Ausgang (nissaraṇa) gefunden!‘

Gerade wie ein Mann, der sich verirrt hat und in eine fremde Gegend geraten ist, beim Auffinden des zu seinem Ziele führenden Weges froh, heiter und zufrieden wird, weil er endlich den Weg gefunden hat. Ebenso auch in ihm, der das Schreckliche im Fortbestand (dem Daseinskreislauf) gesehen hat, drängt sein Herz nach dem Nicht-Fortbestand (kein erneutes Werden mehr), erfreut sich daran, erheitert sich und fühlt sich zufrieden in dem Gedanken: ‚Endlich, wahrlich, habe ich den Ausgang gefunden!‘

Und um das Jenseits des Fortbestands zu erreichen (appavattatthāya), pflegt er den Pfad, forscht ihm nach, hegt ihn, wandelt ihn beharrlich. Und auf dieses Ziel heftet sich seine Achtsamkeit, auf dieses Ziel heftet sich sein Wille, auf dieses Ziel richtet sich seine Freude. Und dadurch, daß er immer wieder erwägt (manasikaroto), überwindet sein Gemüt (Herz/citta) das Aufeinanderfolgen (aparāparaṁ) und gelangt zu jenem Zustande, wo es keinen Fortbestand mehr gibt (appavattaṁ). Und hat er den Nicht-Fortbestand erreicht, so sagt man von ihm, daß er, der im Wandel Vollkommene, das Nibbāna verwirklicht hat.“

„Vortrefflich, ehrwürdiger Nāgasena! So ist es, und so nehme ich es an.“


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